Ist es sinnvoll, den Umwerfer einzusparen und nur mit einem Kettenblatt zu fahren? Wie sollte die Kassette abgestimmt sein? Was sind die Vor- und
Nachteile?
Zwei Vorteile von 1-fach Kurbeln sind offensichtlich: Man spart Gewicht und mögliche Kettenabwürfe - ein zunehmendes Risiko durch immer schmalere Ketten - werden minimiert. Ein "Verschalten" am Umwerfer gibt es nicht mehr.
Aber was ist der Kompromiss bei den verfügbaren Übersetzungen? Im folgenden erläutere ich die Auswirkungen auf Entfaltung, Übersetzungsbandbreite und Stufensprünge.
Es geht in diesem Blog nicht darum, einen Marktüberblick zu geben oder bestimmte Schaltungen oder Konfigurationen zu empfehlen, sondern vielmehr die wichtigen Kriterien zur Auswahl zu erläutern und ein "Zahlengefühl" für die Möglichkeiten zu entwickeln.
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Die Entfaltung ist die zurückgelegte Strecke je Kurbelumdrehung. Einfacher ausgedrückt: Wenn man die Kurbel genau einmal herumdreht, entspricht der dann zurückgelegte Weg des Rades der "Entfaltung".
Beispiel: Mit dem MTB lege ich im kleinsten Gang (Kettenblatt 24/Ritzel 36) mit einer Kurbelumdrehung cirka 1,5 Meter zurück, mit der Zeitfahrmaschine im dicksten Gang (53/11) cirka 10 Meter.
Getriebe wandeln Drehmoment bzw. Drehzahl. Wird eine der beiden Größen durch ein Getriebe verändert, bezeichnet man das als Übersetzung.
Eine Übersetzung bezeichnet den Wandel vom Langsamen zu Schnellen, eine Untersetzung vom Schnellen zum Langsamen. Auf das Rad übertragen heißt das: Solange das Kettenblatt größer ist als das Ritzel sprechen wir von Übersetzung (-> "Speed"), ist das Kettenblatt kleiner als das Ritzel ist es eine Untersetzung (-> "Berg").
Am Rad besteht das "Getriebe" aus ein bis zwei (drei sind veraltet) Kettenblättern und einer Kassette mit derzeit bis zu 13 Ritzeln. Es geht also darum, dieses System optimal aufeinander abzustimmen, um die Anpassung der Drehzahl bzw. Trittfrequenz an stark veränderte Fahrwiderstände wie z.B. steile, lange Anstiege und Abfahrten oder starken Gegen- und Rückenwind, verschiedenste Strassenbeläge bei möglichst gleichbleibender Leistungsabgabe zu ermöglichen.
Der Unterschied von der kleinsten bis zur größten Entfaltung bzw. Übersetzung wird als Übersetzungsbandbreite bezeichnet.
Beispiel: Wäre die kleinste Entfaltung 2 Meter und die größte 10 Meter, berechnet sich die Bandbreite zu 500%.
Wieweit die Entfaltung bzw. Übersetzung aufeinanderfolgender Gänge prozentual auseinander liegt, bezeichnet man als Stufensprung. Mit einfachen Worten: Ein großer Stufensprung bedeutet, dass sich der Gangwechsel mit großen Übersetzungsprüngen (ungünstig) bemerkbar macht.
Zahlenbeispiel: Große Stufensprünge sind zweistellig (> 13% ...), kleine Stufensprünge einstellig (cirka 7% bis 9%).
Besonders Zeitfahrer, Rennradfahrer im flachen Terrain und ambitionierte Sportler, die nach strukturiertem Plan mit definierten Trainingszonen trainieren, legen auf geringe Stufensprünge Wert.
Für Freizeitfahrer und Breitensportler in eher wechselhaftem und bergigem Terrain oder beim Bikepacking ist das nicht so entscheidend.
Ideal wäre eine Übersetzung mit maximaler Übersetzungsbreite mit minimalen und möglichst gleichmäßigen Stufensprüngen.
Um es überzogen theoretisch zu beantworten:
"Wünsch' dir was" wäre ein stufenloses Getriebe mit 1000% Bandbreite.
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Stufenlose Getriebe findet man in Werkzeugmaschinen und Fahrzeugen. Es gibt auch eine stufenlose Nabenschaltung von Enviolo für Fahrräder, allerdings mit nur etwas über 300% Bandbreite. Für sportliche Räder sind stufenlose Getriebe bisher also reines Wunschdenken ....
Die Frage ist, ob es in der Praxis diese eierlegende Wollmichsau als Konfiguration für's Fahrrad gibt, die dem Ideal nahe kommt?
Die unten stehende Tabelle gibt einen beispielhaften Überblick über mögliche Übersetzungskonfigurationen von Aerorennrad, Gravel, Mountain Bike bis hin zum Travel Gravel mit Pinion Getriebe.
Gelb hinterlegt sind die Räder, die ich in meinem Fuhrpark habe. Bisher ausschließlich mit 2-fach Kurbeln. Blau hinterlegt 1-fach Kurbeln und grün der Sonderfall eines Piniongetriebes.
ROT markierte Gänge weisen einen großen Schräglauf der Kette auf und sollten gemieden werden. Effektiv kann man bei 2 x 11 Gängen damit 18 bis maximal 20 Gänge sinnvoll nutzen.
Man erkennt, die unterschiedlichsten Abstimmungen der verschiedenen Radtypen:
Das Zeitfahrrad hat mit nur 266% eine extrem enge Bandbreite und dadurch minimalste Stufensprünge von nur 7 bis 9%. Das heißt die Gänge liegen extrem dicht beieinander.
Das auf Rennen ausgelegte Aero Rennrad mit 18 nutzbaren Gängen und 373% Bandbreite und enge Stufensprünge von 7% bis 11% (mit einem Ausreißer mit 12%) hat. Im Hochgebirge wechselse ich die Kassette des Aero von 11/28 auf 11/32, in Ausnahmefällen sogar 11/34 (entgegen der Herstellerangaben funktioniert das ausgezeichnet!). Im Flachland fahre ich oft ein 11/25 oder sogar 11/23 mit noch engerer Abstufung.
Dann folgen das Speedgravel mit 482%. Hier ändere ich die Übersetzung selten. Dafür tausche ich je nach Gelände den Laufradsatz und fahre Reifen von 30 mm bis 45 mm.
Das Kocmo Travel Gravel und das MTB weisen sogar eine Untersetzung für steile Bergtouren mit Gepäck auf. Das Kocmo mit der mechanischen GXP liegt mit einer Bandbreite von 506% fast auf Niveau des MTB (515%), erreicht aber nicht ganz dessen große Untersetzung. Die minimale Entfaltung beim MTB sind 1,53 Meter, beim Travel Gravel mit den kleinsten Kurbelblättern von 28/44 ist die Untersetzung 1,75 Meter, mit den größeren Kurbelblättern 31/48 ist die Unteretzung 1,94 Meter.
Um diese verschiedensten Konfigurationen fallweise anpassen zu können, habe ich in meiner Werkstatt Kassetten von 11/23 bzw. 12/23 bis 11/36 in jeder Abstufung liegen, die ich je nach Bedarf einbauen kann.
Kurbeln (alle 2-fach) tausche ich seltener, aber auch da habe ich alles auf einen Achsstandard (24 mm Achse) ausgerüstet, so dass ich auch diese untereinander wechseln kann. Ich habe Kurbeln bzw. Kurbelblätter in 28/44, 31/48 und 34/50. Am Zeitfahrrad sogar 39/53. Shimano und SRAM sind bisher bezüglich Kurbeln, Kassetten und Ketten zum Glück 100% kompatibel.
Vergleicht man nun die Werte in den blauen Spalten (1-fach Kurbeln) mit denen der gelben Spalten (2-fach Kurbel), lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten:
Hier ein Beispiel für den Tausch des Kettenblattes von 40 (-> Bergübersetzung) auf 44 Zähne (-> Speedübersetzung) mit einer 10/45 Kassette. Die Übersetzungsbandbreite von 450% bleibt logischweise gleich, Entfaltung und Geschwindigkeit (bei 90 UpM) verschieben sich insgesamt zu höheren Werten:
Meine Kritik: Zur Zeit empfinde ich bei 1-fach Antrieben die Auswahl an Kettenblättern und Kassetten zur individuellen Anpassung als eher eingeschränkt.
Fahrer in flacherem Gelände könnten eine Kassette mit engerer Abstufung brauchen. Bikepacker, die mit viel Zusatzgewicht
unterwegs sind, werden sich grössere Untersetzungen wünschen. Höchstgeschwindigkeiten sind dort eher uninteressant.
Bei Shimano und SRAM ist das zur Zeit kleinste Kettenblatt ein 40er - für meine Vorstellungen zu groß. Es gibt Lösungen von Fremdlieferanten (Race Face mit 36er Kettenblatt). Im MTB-Bereich bietet SRAM für die Eagle ein 32er Kettenblatt an - das wäre auch was für´s Travel Gravel!
Wie oben dargestellt erfolgt bei 2-fach Kettenblättern eine Anpassung an verschiedene Bedingungen hauptsächlich über den Tausch der Kassette. Kettenblätter zu tauschen ist unter Umständen so teuer, dass man Tausch der ganzen Kurbel vorziehen könnte. Die Auswahl an Kassetten ist allerdings ist riesig, verglichen mit dem Angebot der 1-fach Systeme.
Das Piniongetriebe P1.18 (18 Gänge) findet man zunehmend an Travel Gravels: Vollkommen gekapselt, wartungsarm, 18 eng beianderliegende Gänge (mittlere Stufensprünge ca. 11,5%) mit einer konfigurierbaren Bandbreite von sagenhaften 634% .
Das ist eine Lösung, die dem oben formulierten Optimimum am nächsten ist!
Aaaaaber: Mit netto circa 2,3 Kilogramm Zusatzgewicht ist es eine interessante Alternative zum Beispiel für Bikepacker. Der tiefe Schwerpunkt ist dabei sehr positiv zu bewerten. Ambitionierte Rennfahrer werden das Mehrgewicht kaum akzeptieren.
Am Travel Gravel könnte ich mir das in Zukunft durchaus vorstellen.
An der Anzahl und Vielfalt meiner Räder erkennt man schon: Die eierlegende Wollmilchsau gibt es nicht. Wie letztendlich eine Konfiguration aus Kettenblättern und Kassette optimal abgestimmt werden sollte, hängt von drei wesentlichen Faktoren ab: